Anmerkung der Redaktion von www.nachrichtenbetriebsamt.de
Wir werden auf dieser Page in kürze selbst einige
Ungereimtheiten aus dem Buch des Adrian Finke aufzeigen.
Im Neuen Deutschland vom 09.12.2010 erschien folgender
Beitrag:
Ein überflüssiges Fragezeichen
Luftstreitkräfte und Luftverteidigung im Kalten Krieg
Von Walter Hundt
Nicht nur für Militärs und Militärwissenschaftler, sondern auch Politologen
dürfte dieses Buch von Interesse sein. Julian-André Finke, Lehrbeauftragter an
der Bundeswehr-Universität in München, beschäftigt sich mit einem militär- und
bündnispolitischen Komplex, der sich lange vor seiner Geburt formierte und noch
während seiner Kindheit zusammenbrach. Fehlende eigene Erfahrungen und
Einblicke werden erfolgreich durch ein mit großem Fleiß und Akribie betriebenes
Quellenstudium und Diskussionen mit Fachleuten kompensiert. Er absolvierte ein
nach Umfang und Tiefe nahezu einmaliges Materialstudium zu den
Luftstreitkräften und der Luftverteidigung der DDR einerseits und andererseits
zu denen der gesamten ehemaligen sozialistische Staatengemeinschaft. Keine
Beachtung hat Finke leider in jüngster Zeit erschienenen einschlägigen
Veröffentlichungen ehemaliger Führungskräfte der Luftstreitkräfte und
Luftverteidigung der DDR geschenkt. Dennoch: Der historische Abriss ist korrekt
und hochinteressant, nicht zuletzt durch die Auswertung einst streng geheimer
NVA-Dokumente.
Der aufmerksame Leser wird zunächst mit einem Fragezeichen im Titel
konfrontiert – eine auffällige Gepflogenheit bei Publikationen des
Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Potsdam in jüngster Zeit. Es ist schwer
vorstellbar, dass Finke, ungeachtet seines jugendlichen Alters von 29 Jahren,
am Ende seiner Untersuchungen auch nur den geringsten Zweifel daran hat, dass
die Luftstreitkräfte und Luftverteidigung der DDR durchaus Hüter des Luftraums
ihres Staates waren. Was sollten sie denn ansonsten gewesen sein?
Aus der Tatsache, dass die Luftraumüberwachung gemeinsam mit den im Lande
stationierten Verbänden der militärischen Hauptmacht des Warschauer Vertrags
erfolgte, das Nichtvorhandensein staatlicher Souveränität oder deren bis zur
Unkenntlichkeit reichenden Einschränkung im Falle der DDR abzuleiten, wäre
widersinnnig. Unter den seinerzeit gegebenen Bedingungen war klar, dass keine
staatliche Luftraumhoheit bzw. -souveränität eines Mitgliedstaates des
Warschauer Vertrags oder der NATO auch nur vorübergehend uneingeschränkt sein
konnte. Auf die DDR traf zu was auf die Bundesrepublik zutraf und heute noch zutrifft.
Das Fragezeichen auf dem Cover ist demzufolge überflüssig.
Hervorzuheben ist das Bemühen des Autors um Objektivität, beispielsweise
hinsichtlich der quantitativen und qualitativen Veränderungen des Gewichts der
DDR und ihr letztendlich bedeutender Kompetenzzuwachs im Zusammenwirken mit der
Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) bzw. später
sowjetischen Westgruppe (WGS). Dass es Diskrepanzen und unterschiedliche
Auffassungen zwischen der sowjetischen und der DDR-Seite in bestimmten,
keineswegs unwichtigen Detailfragen und Auslegungen gab, war innerhalb des
NVA-Offizierskorps ein »offenes Geheimnis« (z.B. zwischen festgeschriebener und
real wahrgenommener Lufthoheit, Vollmacht für Vernichtungsfeuer auf
Eindringlinge, faktische Rechenschaftspflicht des Chefs der GSSD gegenüber der
DDR-Parteiführung u. a. m.). Die Situation in der NATO zeigt, dass
»Großmachtallüren« nicht immer an eine bestimmte Gesellschaftsordnung gebunden
sind. Ähnlich objektives Herangehen hätte auch einigen Passagen des
theoretisch-verallgemeinernden Teils gutgetan. So hätte man eine ausgewogenere,
weniger ideologiegeprägte Charakterisierung Russlands nach dem Abzug seiner
Streitkräfte aus Deutschland erwartet. Der Vorwurf imperialer Willkür an
Moskauer Adresse verwundert angesichts der Tatsache, dass es US- und andere
NATO-Truppen sind, deren Einsätze heute in allen Winkeln der Welt Menschleben
kosten.
Die persönliche Erfahrung des Rezensenten besagt, dass die Schaffung des
Diensthabenden Systems des Warschauer Paktes auch etwas zu tun hatte mit
ständigen Provokationen und Luftraumverletzungen durch den potenziellen Gegner.
Das führte unumgänglich zu gewaltigen finanziell-materiellen Anstrengungen, die
im Laufe der Zeit bis an die Grenze des Machbaren gingen – vom Autor selbst
mehrfach bestätigt.
Bei einem Thema wie diesem sind die Bedingungen des Kalten Krieges zu beachten,
vor allem die Tatsache, dass auf beiden Seiten der Trennlinie zwischen den
Systemen und ihren Paktorganisationen nahezu permanent eine atomare Bedrohung
aus der Luft gegeben war. Dabei dürfen die Supranationalität der
Paktorganisationen und deren unumgängliche Konsequenzen und militärische
Sachzwänge nicht übersehen oder unterschätzt werden. Beide deutschen Staaten
waren »Frontstaaten« mit besonderer Betroffenheit im Kriegsfall. Weder die DDR
noch die Bundesrepublik waren personell und technisch in der Lage, ihr
Territorium »selbst und allein« zu hüten und zu schützen.
Finke selbst differenziert, dass die DDR bezüglich des Diensthabenden Systems
des Warschauer Paktes über 30 Jahre hinweg eine stetig wachsende, Souveränität
stabilisierende Kompetenz erwarb. Seiner Auffassung nach aber in geringerem
Maße als die Bundesrepublik. Der Rezensent will hier jedoch darauf verweisen,
dass es hinsichtlich der Bundesluftwaffe heute noch entscheidende Vorbehalte
der USA und der NATO gibt, z. B. beim Anspruch auf uneingeschränktes Air
Policing. Letztendlich betont auch Finke, dass die DDR ein »Sonderfall« und
nicht geeignet sei, als allgemeingültiges Fallbeispiel für die Souveränität
koalierender Staaten zu dienen. Für die DDR als kleineren Partner erwuchs aber
auch ein »Vorteil« in Gestalt des technischen Potenzials der UdSSR, das
Sicherheit für das Territorium in erhöhtem Maße garantierte.
Und wer es im ND selbst lesen will:
http://www.neues-deutschland.de/artikel/186008.ein-ueberfluessiges-fragezeichen.html