Anfang Oktober 1990: Generalleutnant Schönbohm bei der Befehlsübernahme in Leipzig Foto: Archiv |
»Ich übernehme diese Aufgabe mit heißem Herzen und kaltem Verstand.« Dieser bedeutungsschwangere Satz fiel am 14. August 1990 »in einem sehr persönlichen Gespräch« mit Gerhard Stoltenberg (CDU), Verteidigungsminister der BRD. Und Bundeswehr-Generalleutnant Jörg Schönbohm (damals noch nicht CDU) fügte an: »Ich kehre mit Freude in meine alte Heimat, in die Nähe meines Geburtsortes zurück.«
Der General begab sich also in den Osten, wohl um zunächst im bisherigen Feindesland höchstpersönlich Aufklärung zu betreiben und dabei das Terrain seiner familiären Wurzeln im Brandenburgischen zu sondieren. Realitäten und Vorurteile bedienend, registrierte er den miserablen Zustand der Autobahn nach Frankfurt/Oder, schaute sich im früheren und inzwischen volkseigenen, reichlich investitionsbedürftigen Autobetrieb seines Schwiegervaters um, sah altes Kopfsteinpflaster in den Dörfern. Selbst beim Bäcker ein Erschrecker: Als er an einem Freitag um 18 Uhr noch Pfannkuchen kaufte und für den nächsten Tag ankündigte wiederzukommen, ließ er sich von der Verkäuferin auf die Sch(r)ippe nehmen: Morgen sei Samstag, da hätten in der DDR die Bäckereien geschlossen.
Die Zeit bis zum 3. Oktober verbrachte Schönbohm damit, seine Mission als Verweser der Nationalen Volksarmee und als Vollstrecker ihrer faktischen Zerschlagung vorzubereiten. Ihm stand dafür ein Stab von 240 Offizieren und Unteroffizieren West und 360 Offizieren und Unteroffizieren Ost sowie 200 zivilen Mitarbeitern zur Verfügung. Das Konzept lag im Planungsstab der Bundeswehr längst vor. Schönbohm machte sich seine Aufgabe klar, wie man in der NVA gesagt hätte: »Würde ich als oberster Vorgesetzter versagen, könnte dies fatale Folgen haben – bis hin zu jenen Meutereien, die in verschiedenen Szenarien immer wieder durchgespielt wurden. Es war nicht einmal auszuschließen, dass die RAF oder versprengte Mitglieder der Staatssicherheit die Gelegenheit nützen würden, durch Anschläge und Attentate die krisenhafte Lage zu verschärfen«, schrieb Schönbohm in seinen Erinnerungen »Zwei Armeen und ein Vaterland – Das Ende der Nationalen Volksarmee«. Und folgerte ohne jeden Anflug von Selbstironie, wenn die Aufgabe leicht wäre, hätte sie auch ein anderer erledigen können.
Mit einer in der Militärbürokratie der Bundeswehr nicht unüblichen Selbstgefälligkeit hatte das Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz unterdessen ein internes Papier »Der Soldat der NVA« herausgegeben. Es sollte Offizieren, die in die Ostwüste kommandiert wurden, »Hilfen zum Verständnis und zum Umgang« mit ihren neuen Kameraden vermitteln – der Versuch einer Psychoanalyse, offenkundig darauf angelegt, die Angehörigen der NVA als militärische Deppen darzustellen. So etwas nennt man psychologische Kriegsführung. Anders ist nicht erklären, wie man aus 40 Privatkontakten, 100 Briefen und 23 Gesprächen allgemeine Schlüsse zu ziehen vermag.
Der Mensch aus der Ostarmee, hieß es, sei ungeübt im Umgang mit Zeitungen, glaube alles, was darin stehe. Es sei zwar kein Korpsgeist zu spüren, dafür aber habe man es mit lauter Leuten zu tun, deren »Fähigkeit zur Selbststeuerung unterentwickelt« sei, weshalb sie zur Überanpassung neigten. NVA-Soldaten stünden vor einem Trümmerfeld und es bedürfe »des Verständnisses und der Behutsamkeit«, was immer sie auch von sich gäben. Der Kamerad Ost habe Schwierigkeiten, »höhere Stufen der Ableitung und der Abstraktion zu erreichen«. Geprägt sei er zudem durch »Mangel an Selbstbewusstsein, starkes Konkurrenzdenken, Verhaltensunsicherheit, ständige Absicherung« – die Arroganz des Siegers.
Die einst 175 000 Mann starke Volksarmee hatte sich bereits selbst drastisch verkleinert. Die Motive der »Kündigungen« betrafen meist die allgemeine Unsicherheit, das Misstrauen, dass Versprechungen nicht eingehalten würden, den Konflikt, in bislang feindlichen Streitkräften zu dienen, und die Sorge, nicht übernommen, sondern arbeitslos zu werden.
Als Schönbohm am 3. Oktober um null Uhr offiziell das Kommando der Bundeswehr Ost antrat, übernahm er nach deren Angaben noch knapp 90 000 Soldaten, 47 000 Zivilbeschäftigte, verteilt auf 1500 Truppenteile und gut 2000 Liegenschaften. Dazu kamen laut einer Studie der Bonner Friedrich-Wilhelm-Universität 1,7 Millionen Schusswaffen, 300 000 Tonnen Munition, 440 Kampfflugzeuge und Hubschrauber, 2300 Panzer, 7850 gepanzerte Fahrzeuge, 3400 Geschütze, 70 Schiffe, 10 600 Luftabwehr-Raketen. Die Übergabe verlief ohne Konflikte. Allerdings sei zu bezweifeln, so Egon Bahr später, dass »das auch so ruhig abgelaufen wäre, wenn den Betroffenen in vollem Umfang die Konsequenzen der Regelungen klar gewesen wären, die die westdeutsche Seite vorlegte«.
»Wir kommen als Deutsche zu Deutschen, nicht als Sieger über Besiegte«, verkündete General Schönbohm am 3. Oktober vor nunmehr ehemaligen NVA-Offizieren – inzwischen in Bundeswehr-Uniform. Am Tag zuvor hatte man sämtliche Generale und Admirale, Politoffiziere, alle Armeeangehörige Ost über 55 Jahre und die Frauen entlassen.
»Ich bin nicht Herr Eppelmann, bin Nachfolger von niemandem«, hatte Schönbohm schon Ende September die DDR-Presse in Bonn wissen lassen, darunter das ND. Was wohl auch ein Fingerzeig darauf sein sollte, dass man mit Rainer Eppelmann als DDR-Minister für Abrüstung und Verteidigung durchaus unzufrieden war. Er hatte der NVA signalisiert, dass es noch eine ganze Weile eine zweite deutsche Armee geben werde, und damit faktisch eine Perspektive suggeriert. Naivität oder wohlkalkuliertes politisches Geschäft, um das Ost-Militär hinzuhalten? In der Truppe sprach man längst vom »Herrn Vereppelmann«. Einen Akt von Clownerie nannte es der letzte NVA-Chef Admiral Theodor Hoffmann, dass kurz vorm Ende der NVA noch für 14 Tage deren Führung ausgetauscht wurde. Eppelmann habe vieles versprochen, ohne dass jemand darauf zurückkam, bis es vergessen war, erinnerte sich Hoffmann.
Der Zwei-plus-Vier-Vertrag hatte die Bundesrepublik zur Abrüstung auf 370 000 Mann verpflichtet. Weil man im Osten schwindende Disziplin, den Zerfall ganzer Truppenteile fürchtete, musste man aber über längere Zeit möglichst viele NVA-Angehörige behalten, um Waffen, Technik und Munition zu bewachen, bis sie verschrottet oder in die weite Welt verhökert werden konnten. Schönbohm und sein Kommando übernahmen zunächst für zwei Jahre rund 18 000 NVA-Soldaten, um geordnete Abläufe zu sichern. Ein erheblicher Teil davon wurde dann doch entlassen, wie es von Anfang an vorgesehen war. Letztlich blieben 10 Prozent der DDR-Berufs- und der -Zeitsoldaten im Dienst, die der Bundeswehr indes zu 90 Prozent.
Innerhalb kürzester Zeit besetzten 2000 Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr Kommandostellen im Osten, heißt es in genannter Studie. »Wir sind nicht als Berater, sondern als Führer hier«, ließ man die Verbliebenen wissen. Man degradierte sie – zumeist um zwei Dienstgrade. Der Sold lag um 15 Prozent niedriger als der der Westkameraden. Trotz nicht weniger Umschulungsangebote hatten es die NVA-Leute schwer, im zivilen Alltag Fuß zu fassen. Raketenspezialisten etwa tingelten als Staubsaugervertreter durchs Land. Die Studie zitiert aus einer Umfrage, nach der sich auch 1995 noch 87,8 Prozent von ihnen als Bürger zweiter Klasse fühlen.
Am 30. Juni 1991 beendeten Schönbohm und sein Kommando ihren Vollstrecker-Job. Ohne die deutsche Einheit hätte er seine Karriere wahrscheinlich als NATO-Oberbefehlshaber Europa oder als Generalinspekteur der Bundeswehr beendet, sagte Schönbohm der »taz«. Statt dessen wurde er Innensenator in Berlin und Innenminister in Brandenburg. Und er steht auf der Liste der namhaftesten Bürger in der Geschichte seiner Geburtsstadt Bad Saarow.
Vom Autor Rainer Funke im ND vom 28.08.2010